Was dir deine Emotionen sagen wollen
Coaching
Experten zeigen, dass auch negative Gefühle einen positiven Effekt haben können. Und sie geben dir einfache Tipps, wie du dich selbst mit unangenehmen Dingen abfinden kannst.
Befrei dich von Stress. Finde deine Freude. Don’t worry, be happy. Ryan Flaherty, Nike Senior Director of Performance und Mitglied des Nike Performance Council, ist kein Freund solcher Sprüche: Manchmal sollte man seine Ängste und Verunsicherung bewusst zulassen, so seine Meinung: "Anderenfalls würde ich mir etwas Sorgen um dich machen."
Flaherty hat Elite-Athleten in Situationen trainiert, in denen sie extrem unter Druck standen, und ist daher bestens mit schwierigen emotionalen Zuständen vertraut. Als die Welt Anfang des Jahres plötzlich Kopf stand und nichts mehr war wie vorher, nutzte Flaherty seinen Podcast "Trained", um seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu helfen, mit Emotionen umzugehen, die sie in dieser Intensität noch nie erlebt hatten. Dazu sprach er mit Fachleuten aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten über das Thema "Was machen wir mit Angst, tiefer Verunsicherung und Traurigkeit, wenn sie aus allen Richtungen über uns hereinbrechen?" Die befragten Experten waren sich in einem einig: Nur wenn man sich schwierigen Emotionen stellt, die man so noch nicht erlebt hat, kann man an ihnen wachsen.
Hör auf deine Gefühle
Die meisten von uns unterscheiden zwischen guten und schlechten Gefühlen, so Andy Puddicombe. Er ist Mitbegründer von Headspace, Mitglied des Nike Performance Council und Spezialist für Meditation und Achtsamkeit. "Uns gefällt nicht, was die 'schlechten' Emotionen in uns auslösen, also lassen wir sie erst gar nicht zu. Aber dadurch werden sie noch viel stärker", erklärt Puddicombe und empfiehlt zu meditieren, um sich mit diesen unangenehmen Gefühlen anzufreunden. "Beim Meditieren versuchst du nicht, deine Emotionen loszuwerden, sondern vielmehr, sie so anzunehmen, wie sie sind." (Er empfiehlt für den Einstieg, einfach jeden Tag einige Minuten still zu sitzen und wertfrei zu beobachten, wie diese Gefühle kommen und gehen).
Wenn du deine nicht so schönen Emotionen in ihrer ganzen Bandbreite bewusst wahrnimmst, können sie dir unter Umständen sogar wichtige Informationen über dein Umfeld liefern. "Letztlich ist Angst ein Signal", erklärt Sue Falsone, klinische Spezialistin für Sportphysiotherapie mit Schwerpunkt Reha und Mitglied des Nike Performance Council. "Sie sagt dir 'Hey, irgendwas stimmt nicht mit der Welt!'" Allein das Wissen, dass es nicht unbedingt um dich und deine Person geht, kann helfen, das Gefühl viel besser anzunehmen, sagt Falsone.
"Uns gefällt nicht, was die 'schlechten' Emotionen in uns auslösen, also lassen wir sie erst gar nicht zu. Aber dadurch werden sie noch viel stärker."
Andy Puddicombe
Mitbegründer von Headspace und Mitglied des Nike Performance Council
Für Dr. Angela Duckworth, Psychologin und Autorin des Bestseller-Ratgebers "GRIT – Die neue Formel zum Erfolg: Mit Begeisterung und Ausdauer ans Ziel", ist dieses "Signal" ein zentrales Element unserer Evolution. Stress und Angst werden von deinem fest verinnerlichten Flucht-Kampf-System ausgelöst, das sich über Millionen von Jahren entwickelt hat, so erklärt sie. "Unsere Vorfahren haben es nicht überlebt, wenn sie auf Bedrohung nicht mit Stress reagiert haben", ergänzt sie. "Nehmen wir die Corona-Krise: Wenn diese Entwicklung und Situation keinen Stress bei dir verursacht hätten, hättest du wahrscheinlich nicht damit angefangen, dir 20 Sekunden lang die Hände zu waschen. Wenn du die Lage mit einem 'Ach komm, ist doch alles gut' ignoriert hättest, hättest du keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen. Händewaschen usw. sind Anpassungsmaßnahmen. Und die Tatsache, dass Stress ein negatives Gefühl ist, begründet zum Teil, warum er so gut funktioniert". Für Dr. Duckworth ist es jedenfalls nur allzu menschlich, auf wirklich schwierige, fordernde Situationen mit Stress zu reagieren.
Auch andere schwierige Emotionen liegen in der Evolution verankert. "Wenn du Durst hast, bedeutet das, dass du dehydriert bist. Dein Körper meldet dir, dass er Wasser braucht, um zu überleben", erklärt Dr. Stephanie Cacioppo, Neurowissenschaftlerin mit Schwerpunkt Einsamkeit und Mitglied des Nike Performance Council. "Genau wie das Durstgefühl ist auch Einsamkeit ein Signal, das dir sagt, dass es dir an etwas mangelt. Wenn du dich einsam fühlst, bedeutet das, dass du wieder den Kontakt zu anderen suchen solltest."
Vor schwierigen Gefühlen kannst du nicht flüchten – aber du hast es in der Hand, sie zu steuern. Wie das geht, erfährst du hier.
Zuhören
Ganz wichtig: Sei nicht so streng zu dir selbst. "Es ist OK, wenn es dir nicht gut geht. Das ist der erste Schritt zu einem bewussteren Umgang mit deinen Emotionen", erklärt Falsone.
Versuch, dir bis zu einem gewissen Grad nicht zu viele Gedanken über deine Emotionen zu machen. "Wir müssen uns nicht auch noch Stress machen, weil wir momentan gestresst sind", so Dr. Duckworth. Um den Schneeballeffekt zu stoppen, solltest du angenehme Emotionen aktiv kanalisieren. Duckworth macht dies mit einer 30-sekündigen Übung, bei der sie sich an drei positive Dinge aus den vergangenen 24 Stunden erinnert. "Das können große oder ganz kleine Dinge sein", erklärt sie. "Normalerweise konzentrieren wir uns nämlich auf die negativen Dinge. Der Mensch hat sich so entwickelt, dass er immer nach möglichen Bedrohungen am Horizont Ausschau hält. Mit dieser Übung aber lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir vielleicht übersehen könnten." Versuch, diese Übung jeden Morgen nach dem Aufstehen zu machen.
Puddicombe hat seine eigene Routine, die ihm hilft, das zu verinnerlichen, was die Buddhisten "Liebende Güte" nennen. "Dabei denke ich an einen Menschen, der mir am Herzen liegt", sagt er. "Vor meinem geistigen Auge sitzt dieser Mensch an seinem Lieblingsort. Immer, wenn ich ausatme, stelle ich mir vor, wie er immer gesünder, glücklicher und entspannter aussieht. Wenn ich mich auf sein Glück konzentriere, entsteht eine Freude und Verbindung, die mir vielleicht gefehlt hat." Übungen wie diese, so Puddicombe, können dich auch zum positiven Handeln bringen. "Viele meinen, Meditieren sei eine Flucht vor dem Leben. Es ist aber genau das Gegenteil: Du gehst bewusst aufs Leben zu und bringst diese innere Einstellung auch in deinen Alltag zurück."
Abschließend hat Dr. Cacioppo noch einen einfachen Ratschlag, der alles, was oben beschrieben wurde, vereint: "Sei dein eigener bester Freund." Ein bester Freund oder eine beste Freundin ist meistens ein Mensch, der dich stärkt, unvoreingenommen ist und dich in jeder Hinsicht unterstützt – egal, was du fühlst. "Warum behandeln wir uns also nicht selber so?", fragt Dr. Cacioppo.
Und nachdem du jetzt so einiges zum Thema Emotionen erfahren hast, sollte die nächste Frage lauten: "Warum fängst du nicht heute damit an?"