Was uns bewegt: Football zu sechst
Community
Diese interessante Variante des klassischen Spiels hält Traditionen in Marfa, einer sich schnell verändernden texanischen Stadt, am Leben.
Sport kann vieles sein. In der Serie "Was uns bewegt" erforschen wir, was er für die unterschiedlichen Communitys rund um die Welt bedeutet.
Das zweite Viertel des Finalspiels mit den Shorthorns, der Football-Mannschaft von Marfa, in einer von der Pandemie geprägten Saison: John Aguero, Quarterback und Running Back der Shorthorns, bekommt den Ball und wirft ihn weiter zu Ethan Zubia, den Starting Quarterback. Ethan schafft es hinter die Line of Scrimmage.
Ethan kämpft sich 15 Yards zurück, weit hinter die Drei-Mann-Verteidigungslinie (es dürfen nur 12 Spieler gleichzeitig auf dem Spielfeld stehen). Er entkommt einem Verteidiger der Van Horn Eagles, dann einem zweiten. Er steht unter Druck und wagt einen Pass in die Endzone an den Wide Receiver der Shorthorns, Ian Marquez. Der springt in die Höhe und schnappt sich den Ball. Touchdown! Die Fans aus Marfa, die mehr als eine Stunde zum Eagle Field in Van Horn unterwegs waren, um ihr Team an diesem Abend zu unterstützen, sind außer sich vor Begeisterung.
Die Eagles haben zwar Heimvorteil und führen zur Halbzeit mit 34 zu 12, aber der Ausflug in die End Zone gibt den Shorthorns die Hoffnung, dass sie nicht in den Bereich der 45-Punkt-Mercy-Regel kommen. Die besagt, dass ein Team, das zur oder nach der Halbzeit mit mehr als 45 Punkten führt, zum Sieger erklärt wird. Bei einem Spiel auf High-School-Niveau wäre eine Differenz von 45 Punkten ein Grund zu echter Sorge. Aber in Spielen wie diesem hier führt oft schon ein verpatzter Tackle zu einem Touchdown, daher wird die Mercy-Regel nicht selten angewendet.
Das hier ist kein Football-Spiel der normalen Art.
Das ist Six-Man-Football.
Marfas Identitätskrise
Spielen, coachen oder jubeln: Für die Bewohner von Marfa gehört Football zur Identität ihrer Stadt. Durch Corona wurden die Freitagsspiele für die Menschen noch wichtiger. Auf einmal wurde allen bewusst, wie schnell solche Traditionen ein Ende finden können.
In den letzten Jahren wurde Marfa zu einer Oase für Kunst und Kultur. Touristen fanden ihren Weg in schicke Restaurants, hippe Hotels und ungewöhnliche Ausstellungen. Diese Veränderungen und die dadurch steigenden Preise für Mieten und Lebenshaltung – ein Steak kostet gerne mal 60 Dollar – führten auf der anderen Seite zu einem Exodus der ursprünglich hier ansässigen Arbeiter und Angestellten und ihrer Familien.
In einer Gemeinde, die etwa 200 Meilen von El Paso entfernt liegt und knapp 2.000 Einwohner zählt, gehört Football zu den Dingen, die die Menschen zusammenschweißen. "In der Stadt sind die Fenster in den Vereinsfarben Lila und Weiß geschmückt, die Menschen hängen die Teamflagge auf. Das ist der Geist von Marfa", erzählt der Cheftrainer der Shorthorns, Arturo Alferez. "Es ist ein ganz besonderes Gefühl, dazu zu gehören. Jeder trägt dazu bei, dass sich diese Stadt von ihrer besten Seite zeigt."
Aber die Abwanderung der alteingesessenen Bewohner führte dazu, dass in Marfa seit 2011 Football nicht mehr mit 11, sondern nur noch mit 6 Spielern gespielt wird.
Die Geschichte dahinter
Diese besondere Form des American Football wurde von Stephen E. Epler, einem Lehrer aus Nebraska, während der großen Wirtschaftskrise in den 1930ern entwickelt. Er nannte es "Six-Man". Die Idee war, auch Spielern aus Gemeinden mit schwindender Bevölkerung die Gelegenheit zu geben, den Sport weiter zu praktizieren. Das erste offizielle Six-Man-Spiel fand 1934 in Nebraska statt. 1938 hatte "Six-Man" auch seinen Weg nach Texas gefunden und bereits 1953 wurde es an tausenden von Schulen in ländlichen Regionen gespielt.
Heute verfügen mehr als 350 kleine Schulen vor allem in Nebraska, Montana, New Mexico, Oregon und Texas über ein Six-Man-Team, was vor allem daran liegt, dass die Gemeinden hier unter einer ähnlichen Abwanderung der Bevölkerung leiden wie während der Großen Depression. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 2020 und 2022 an mehr als 150 Schulen in Texas Six-Man-Football gespielt werden wird.
Die Regeln
- Um an Turnieren teilnehmen zu können, muss eine Schule weniger als 105 Schüler haben.
- Das erste Down befindet sich bei 15 Yards (nicht bei 10).
- Ein Quarter dauert 10 Minuten (nicht 12).
- Jeder Spieler auf dem Feld kann als Receiver fungieren.
- Der Quarterback darf nicht hinter die Line Of Scrimmage kommen, solange der Ball nicht sauber übergeben wurde. Um dies zu umgehen, wird der Ball oft zunächst an einen Spieler abgespielt, der ihn dann an den Quarterback übergibt. Dieser kann dann scramblen, falls sich das anbietet.
- Ein Field Goal zählt 4 Punkte (nicht 3). Ein Kicked Point nach einem Touchdown zählt 2 Punkte (nicht 1) und ein Conversion Run oder ein Passspiel zählt 1 Punkt (nicht 2).
Spielstrategie
- Gewinnen. Oder auf jeden Fall Spaß am Spiel haben.
- Konzentriert und diszipliniert spielen. Sonst bekommst du es mit dem Defensiv-Koordinator Coach Josh Kelly zu tun.
- Kein Punt am Fourth Down. Selbst wenn es nicht der 4., sondern der 27. ist. Punts kommen im Six-Man-Football so gut wie nie vor und Chefcoach Arturo Alferez setzt gern auf Risiko.
- Fall keine 45 Punkte zurück. Wenn du zur Halbzeit oder in der zweiten Hälfte 45 Punkte zurückliegst, hast du verloren.
- Beweg dich. Wenn weniger Spieler auf dem Spielfeld stehen, müssen alle mehr laufen.
Heimspiel
Die Shorthorns spielen ihre Heimspiele auf dem Martin Field. Wie bei allen Six-Man-Feldern ist dieser Platz nur 80 mal 40 Yards groß, im Gegensatz zu normalen Football-Feldern mit 120 mal 53 1/3 Yards. Zahlen und Hash-Markierungen werden auf das ausgedörrte gelbe Gras gemalt. Vor der Pandemie waren die Ränge bei jedem Spiel voller Fans, doch auch jetzt gibt es noch Anhänger, die sich nicht abhalten lassen, ihrer Mannschaft zuzujubeln. Trainings und spannende Spiele ziehen nach wie vor Zuschauer in ihren Bann, die für den Football leben.
Besetzung
Dieser Sport lebt nicht nur von seinen Spielern, sondern auch von seinen Trainern, Managern und treuen Fans, die Spiel für Spiel an der Seitenlinie stehen, egal wie das Ergebnis ausfällt. In dieser Stadt wird das Six-Man-Spiel lebendig gehalten.
"The Natural"
Ian Marquez
Alter: 16
Wide Receiver
"Six-Man-Football gibt auch kleinen Schulen die Gelegenheit, Football zu spielen. Das ist das Besondere daran", erklärt Ian, der vor dieser Saison kaum einen Down gespielt hat. Als Neuling entschied er sich, nicht zu spielen. Diese Entscheidung schockierte seine Eltern, denn er stammt aus einer Familie voller Sportler und Football-Fans. Sein älterer Bruder Angel ist eine Six-Man-Legende und in der Region berühmt für 10 Touchdowns in einem einzigen Spiel. In seinem Junior Year allerdings wurde Ian dann auch zu einem Star. "Er hat unsere Offensive komplett transformiert", begeistert sich Coach Alferez. Dank Ians Athletik sind die Shorthorns jetzt in der Lage, öfter erfolgreiche Downs zu spielen.
"Teddy Bear"
Arturo Alferez
Alter: 46
Chefcoach
Coach Alferez ist seit 20 Jahren Trainer und war schon an vielen Schulen in Texas. Seine Schüler und seine Trainerkollegen nennen ihn den Teddy Bear. Er ist die Seele der Shorthorns. "Die Football-Mannschaft in Marfa zu trainieren ist für mich eine Herzensangelegenheit", erklärt er. Coach Alferez liebt es, neue Traditionen zu etablieren. Einige davon haben direkt mit Football zu tun – Gewinnen zum Beispiel – andere dafür weniger, darunter Ballet Folklórico, ein traditioneller mexikanischer Volkstanz, für den er selber Choreographien entwickelt und den er auch seinen Football-Spielern beibringt. Auch wenn er im Scherz immer mal wieder davon redet, in Rente zu gehen, ist jedem klar, dass das für ihn eigentlich undenkbar ist. "Ich sage meiner Mannschaft immer: 'Wenn ihr mit eurem letzten Tor keinen Pokal oder Ring gewinnt, dann seid ihr im falschen Team'", erzählt er.
"The Gamer"
Justice Ortiz
Alter: 17
Safety/Wide Receiver
Justice gibt zu, dass er sich Football noch nicht mal im Fernsehen anschaut. Er spielt lieber Videospiele – Call of Duty, Red Dead Redemption 2, Grand Theft Auto, Minecraft. Wenn er nicht gerade im lilafarbenen Mannschaftstrikot auf dem Feld steht, hat er einen Controller in der Hand. Wie kommt also ein schlaksiger junger Mann, der sich noch nicht einmal etwas aus Football macht, auf die Idee, in seinem Junior Year für die Shorthorns zu spielen? "Mir ist die Zeit mit meinen Freunden wichtig", erklärt er. "Ich möchte Teil der Gemeinschaft sein."
"The Chip Off the Block"
Tristan Kelly
Alter: 15
Offensive Line/Defensive Line
Tristans Vater, Coach Kelly, ist Mathematiklehrer und hat früher für die Sanderson Eagles in der Six-Man-Mannschaft gespielt. 2002 fehlten ihm nur 5 Punkte, um einen bisher ungeschlagenen Rekord zu übertreffen, und er erreichte mit seiner Mannschaft fast die staatlichen Meisterschaften. Tristan selber ist in seinem ersten Jahr an der High-School und zeigte bereits großes Potenzial, als er gegen höhere Mannschaften spielte. Aber er ist auch begeistert von der Mathematik und möchte an der University of Texas Maschinenbau studieren. Obwohl Tristan in die Fußstapfen seines Vaters tritt, möchte er seinen eigenen Weg gehen. "Mein Ziel ist es, besser zu sein als er", erklärt er. "Und wenn ich einmal Kinder habe, sollten sie besser sein als ich, denn so sollte das Leben laufen."
"The Marfa Natives"
Armondo und Lucy Garcia
Alter: 83 und 81
Rentner
Die Garcias sind in Marfa geboren und aufgewachsen und haben sich an der High-School kennengelernt. 1957 haben sie geheiratet. Armondo war beim Militär und hat mit seiner Familie an den verschiedensten Orten in den USA gelebt. In den 70ern kehrten sie dann nach Marfa zurück. Sie haben eine zutiefst emotionale Verbindung zum Team: Bereits ihre Kinder haben Football gespielt oder waren Cheerleader für die Shorthorns. Jetzt ist ihr Urenkel Diego Estrada Freshman im Team. Ihr Sohn Sammy, der mit 19 Jahren starb, war Künstler und entwarf das Logo der Shorthorns, das heute noch verwendet wird. "Immer, wenn ich es sehe", gibt Lucy zu, "kommen mir die Tränen."
Die letzte Ballübergabe der Saison
Das Spiel in Van Horn endet enttäuschend für die Shorthorns. Obwohl ihre Gegner, die Eagles, erst ihre erste Saison als Six-Man-Team spielen, sind sie zu stark für die Mannschaft aus Marfa. In den letzten beiden Spielminuten, beim Spielstand von 75 zu 26, verlieren die Shorthorns durch die Mercy-Regel. Bei der Besprechung nach dem Spiel bauen die Coaches ihre Jungs durch aufmunternde Worte wieder auf. "Mit dem Programm, das wir uns vorgenommen haben, werden wir das erreichen, wozu wir fähig sind", sagt Coach Alferez. "Nochmal vielen Dank für euren Einsatz. Ich habe großen Respekt vor euch Jungs, und das sage ich aus tiefstem Herzen. Ich liebe euch, Jungs, ich liebe euch wirklich!" Teenager mit Tränen in den Augen antworten im Chor: "Wir dich auch!"
Am Samstag nach dem Spiel treffen sich einige Spieler – Justice, Cristian Ontiveros und Uriel Torres – bei Ian zu Hause. Sein Vater grillt auf einer "Disco", einem großen, runden Grill speziell für die mexikanische Küche. Er macht Tacos, denn gleich beginnt das Texas Tech Game im Fernsehen. Die Jungs stecken die Köpfe zusammen, sprechen über die Fehler, die beim Spiel am Abend zuvor gemacht wurden, über Videospiele, Musik und den falschen Eindruck, den Außenstehende von Marfa haben. "Es gibt gute Leute hier", sagt Cristian. "Hier gibt es mehr als nur die Kunst."
In den Jahren, in denen Coach Alferez die Mannschaft trainiert, haben sie nur ein einziges Mal den Siegesrekord geschafft. Aber nach dieser Saison startet Alferez mit neuem Optimismus in die nächste. "Wir haben Fortschritte gemacht", erklärt er. "Wir haben gelernt zu punkten. Wir müssen uns nicht vor der Konkurrenz verstecken."
Das Team ist wie eine Familie geworden. Ihre Spiele erwecken den Geist der alten Tage zum Leben und bringen die Menschen von Marfa zusammen. Und dank Spielern wie Tristan und Ian lebt der Football in Marfa auch in der nächsten Generation weiter.
Text: Drew Blackburn
Fotos: Cengiz Yar
Illustration: David Linchen
Gemeldet: November 2020