Nachhaltiges Schuhdesign 101
Innovation
Das "Space Hippie"-Projekt war eine Art Crashkurs in Sachen Design für eine CO2-freie Zukunft. Wir haben dabei unter anderem diese fünf Dinge gelernt:
Bei der Serie "Eine bessere Zukunft" haben wir uns die Frage gestellt, wie wir zusammen mehr für eine nachhaltige Zukunft im Sport tun können.
Beim Design mit Blick auf eine gesündere Welt geht es zu wie bei einer Marsmission: Es steht viel auf dem Spiel. Die Ressourcen sind begrenzt. Niemand kennt den Weg wirklich. Kurz: Alles ist ein Abenteuer.
"Man stelle sich vor, wir alle säßen in Schutzanzügen in einem Raumschiff. Meiner ist übrigens aus lila Samt", sagt James Zormeir, Nike Schuhdesigner. "Und plötzlich merken wir: 'Hey, wir müssen dieses Schiff steuern!'"
Zormeir war in diesem "Raumschiff" der Copilot. Gemeinsam mit einem erfindungsreichen Team innovativer Kräfte entwickelte er "Space Hippie", eine Kollektion von Sneakern aus Abfallstoffen, die zu 25 bis 50 Prozent ihres Gewichts aus recycelten Materialien besteht. Die Kollektion wurde im Sommer 2020 vorgestellt. Das war der Beginn einer Ära der Nachhaltigkeit – und zwar hoffentlich nicht nur bei Nike, sondern auf der ganzen Welt.
"Zu Beginn des Projekts waren wir keine Nachhaltigkeitsexperten. Während des gesamten Prozesses tauchten laufend neue Fragen auf."
Haley Toelle
Space Hippie Designerin
Idealziel des Teams war es, einen Schuh ohne CO2-Emissionen zu entwickeln. Diese Aufgabe erforderte bei jedem Schritt innovatives Denken. Am Ende wurde die CO2-Bilanz um mehr als 70 Prozent verbessert (mehr dazu später), aber die berühmte Null konnte leider nicht erreicht werden.
Das ist in Ordnung. Für das Team war nicht nur das Endergebnis wichtig, sondern auch die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse und die gesammelten Daten.
Um die gewonnenen Ergebnisse umsetzen zu können, musste das Team immer wieder über den eigenen Tellerrand schauen. "Zu Beginn des Projekts waren wir keine Nachhaltigkeitsexperten", so Schuhdesignerin Haley Toelle. "Während des gesamten Prozesses tauchten laufend neue Fragen auf."
Uns ist bewusst, dass auch ihr Fragen habt. Um Antworten zu finden und die Klimakrise gemeinsam zu bekämpfen, erzählen wir euch hier kurz, welche fünf Lehren wir in Sachen Nachhaltigkeit aus dem Space Hippie-Projekt gezogen haben. Sie sollen uns bei allen weiteren Experimenten den Weg weisen.
Lektion Nr. 1: Man darf ruhig mal verwirrt sein
Über Nachhaltigkeit wird überall geredet, bei Kleidung, bei Autos, sogar bei Kaffeebohnen. Aber was bedeutet der Begriff eigentlich wirklich?
Eine Definition ist nicht einfach, weil man "nachhaltige" und "nicht nachhaltige" Gegenstände nicht ohne Weiteres unterscheiden kann. Es gibt viele Faktoren: Woraus ist ein Produkt gemacht? Wie wurde es hergestellt? Wie wird es versandt? Dementsprechend ist Nachhaltigkeit eher ein Spektrum.
"Man kann Nachhaltigkeit auf so viele verschiedene Weisen messen", bemerkt Toelle. "Ob nach Wasserverbrauch, CO2-Emissionen, Arbeitsbedingungen: Verwirrend ist das nicht nur für Verbraucher, sondern auch für Designer, die herausfinden wollen, auf was sie sich am besten konzentrieren."
Deshalb war es für das Space Hippie-Team wichtig, gleich am Anfang ein Ziel zu setzen. Man entschied sich dafür, einen Schuh zu entwickeln, bei dessen Produktion keine CO2-Emissionen entstehen. Noah Murphy-Reinhertz, Chefdesigner bei diesem Projekt, erläutert den Grundgedanken:
"Es gibt zwei Dinge, die wir [als Gesellschaft] tun können: für weniger CO2-Ausstoß in die Atmosphäre sorgen und CO2 aus der Atmosphäre herausnehmen", stellt er fest und bringt damit klimafreundliches Handeln auf einen einfachen Nenner. "Tatsächlich müssen wir beides machen. Aber [das Erstgenannte] ist etwas, das wir gleich heute tun können."
"Es gibt zwei Dinge, die wir tun können: für weniger CO2-Ausstoß in die Atmosphäre sorgen und CO2 aus der Atmosphäre herausnehmen."
Noah Murphy-Reinhertz
Space Hippie Design Lead
Was genau hat das jetzt alles mit Kohlendioxid zu tun? Ob im Hochtechnologiebereich Halbleiter hergestellt oder ob einfach nur beim Frühstück der Toaster eingeschaltet wird: Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden kohlenstoffreiche fossile Brennstoffe verbrannt, damit all das funktioniert. Die daraus resultierenden Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2) schließen Sonnenwärme in unserer Atmosphäre ein und sind hauptverantwortlich für den Klimawandel. Zwar kommt CO2 auch natürlich vor, was eine gute Sache ist (denn ganz ohne den Treibhauseffekt wäre unsere Erde nur ein gigantischer Schneeball), aber die wahnwitzigen Mengen, die wir in den letzten 200 Jahren produziert haben, lassen die Dinge aus dem Lot geraten.
Zwar konnte das Team sein Null-CO2-Ziel (diesmal) nicht erreichen, aber das Space Hippie-Modell "04" erreichte ein Endergebnis von ungefähr 3,7 kg CO2e (Kohlendioxidäquivalent, ein Standardmaß für die Kohlenstoff-Gesamtbilanz). Zum Vergleich: Die Herstellung eines Paars dieser Schuhe verursacht ungefähr so viele CO2-Emissionen wie eine Autofahrt über 15 Kilometer oder wie 472 Smartphone-Ladevorgänge.
Und im Vergleich mit anderen branchentypischen Schuhen, bei denen der Äquivalenzwert mehr als dreimal so hoch ausfällt (12,5 kg CO2e gemäß einer Studie des Massachusetts Institute of Technology), bedeutet Space Hippie einen großen Schritt in die richtige Richtung. Wie also konnte dem Team dieser Erfolg gelingen?
Lektion Nr. 2: Gutes besser machen
Eines wissen wir genau: Der Löwenanteil des CO2-Ausstoßes bei Nike (mehr als 70 Prozent) stammt aus den Materialien, die wir verwenden.
Das Space Hippie-Team hatte Glück: Es konnte auf einige bereits früher entwickelte nachhaltige Materialien zurückgreifen. Da wäre zum Beispiel Flyknit, eine Innovation von Nike, die im Jahr 2012 vorgestellt wurde. Dieses Material reduziert Auswirkungen auf die Umwelt durch den Einsatz von Garn aus recyceltem Polyester zur Fertigung einer hocheffizienten Strickkonstruktion.
"Man nehme eine Plastikflasche, schreddere sie und schmelze sie, um sie anschließend neu zu verspinnen. Im Grunde springt dabei ein neues Polyestermaterial heraus", erklärt Murphy-Reinhertz und beschreibt damit das übliche Verfahren zur Flyknit-Herstellung. Hört sich toll an, hat aber einen Haken: "Dieses Verfahren erfordert eine Menge Wärme und Energie."
Auf das Nachhaltigkeitsspektrum übertragen bedeutet das: Mit Flyknit ist der CO2-Ausstoß geringer als bei den meisten anderen Schuhmaterialien. Dennoch gibt es nach wie vor einen CO2-Ausstoß. Das Team erkannte eine Gelegenheit für weitere Innovation, indem 50 Prozent des aufbereiteten Flyknit-Polyesters mit T-Shirt-Verschnittresten aus der Fertigung ersetzt wurden.
"Wir unterziehen [die T-Shirt-Reste] buchstäblich einer Prozedur wie beim Holzhäckseln", erläutert Murphy-Reinhertz. "Dabei ist äußerst wenig Energie im Spiel. Kein Aufheizen, kein hydraulischer Druck. Am Ende springt ein Haufen Flocken heraus. Diese Flocken verzwirnen wir dann mit dem Plastikflaschengarn."
Das neue Verbundmaterial wurde auf den Namen "Space Waste" getauft und sein umweltfreundliches Potenzial ist enorm. "Dieses Garn [brachte uns eine] 70-prozentige Reduktion des CO2-Ausstoßes im Vergleich zu auf die übliche Weise recyceltem Polyester", bemerkt Murphy-Reinhertz. "Das war bei diesem Projekt eigentlich die wichtigste Entwicklung."
"Einer unserer Werksentwickler in Korea hat sich ein Space Hippie-Tattoo stechen lassen. Ich denke, das werde ich auch tun."
James Zormeir
Space Hippie Designer
Lektion Nr. 3: Unvollkommenheit annehmen
Space Waste-Garn verschaffte dem Team eine zufriedenstellende Reduktion beim CO2-Ausstoß in Hinblick auf das Obermaterial von Schuhen. Aber es waren weitere Durchbrüche notwendig, um dem Nullziel näherzukommen.
"Mitstreiter von uns hatten schon längere Zeit zuvor begonnen, mit Crater Foam zu arbeiten", sagt Toelle und bezieht sich auf ein Material mit einem Anteil von 10 Prozent Nike Grind (Gummiverschnitt aus der Herstellung von Schuhen) als Füllstoff für die mineralölbasierten Schaumstoffe, aus denen die meisten Schuhsohlen bestehen. "Sie bemühten sich, es gleichmäßiger hinzubekommen, aber es gab immer jede Menge Blasen."
Weil aber das Ziel des Space Hippie-Teams strikte Nachhaltigkeit war, musste der Schuh nicht unbedingt perfekt aussehen, solange es Fortschritte in Sachen Nachhaltigkeit gab. Tatsächlich wurde das sogar Teil des Konzepts. "So entstand eine ziemlich verrückte Ästhetik, und wir beschlossen, einfach damit zu leben", erinnert sich Toelle.
Zormeir war begeistert von der Idee, Funktion vor Perfektion zu stellen. "Ich hatte schon immer gewisse Probleme mit diesem typisch überperfekten Industriedesign, das schon fast eine Art Fetisch der Branche zu sein scheint", sagt er. "Deshalb war ich begeistert von der Idee, dass der Space Hippie zu einer ästhetischen Herausforderung werden sollte. Der etwas spröde Charme ist hier Teil einer radikalen Transparenz."
Es ist eine Sache, eine einzigartige Vision zu haben. Aber um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen, musste das Team andere mit einbeziehen.
"Crater Foam an sich hat 'Schönheitsfehler' aufgrund des Nike Grind-Füllstoffs", sagt Zormeir. "Ich nenne das den 'Regenbogen-Streuselkuchen-Effekt'."
"Das verstößt gegen alles, was man uns über einen hochwertig hergestellten Schuh beigebracht hat", sagt Toelle und bezieht sich damit auf die Qualitätskontrollteams in Partner-Fertigungsstätten von Nike, bei denen "Schönheitsfehler" normalerweise alle roten Lampen angehen lassen. "Wir allerdings erwiderten, dass uns die – wie die Japaner es nennen – Wabi-Sabi-Natur der Materialien gut gefällt. Das Unvollkommene ist Bestandteil des Materialcharakters – und überdies ein Teil der Abfallvermeidung. Also mustert das bitte nicht aus!”
Nachdem unsere Werkspartner einmal verstanden hatten, dass dieses unkonventionelle Erscheinungsbild Teil unserer weitergehenden Absichten zum Erreichen einer besseren CO2-Bilanz war, wurden auch sie von der positiven Stimmung ergriffen – manchmal sogar in extremer Form.
"Einer unserer Werksentwickler in Korea hat sich ein Space Hippie-Tattoo stechen lassen", sagt Zormeir. "Ich denke, das werde ich auch tun."
Lektion Nr. 4: Es muss Spaß machen
"Zunächst war der Name nur ein Witz", sagt Zormeir über Space Hippie. "Aber er blieb hängen. Und so entwickelte sich für uns [eine Art Mantra]: 'Es macht keinen Spaß? Dann ist es auch kein Space Hippie'."
Der Name wurde inspiriert vom ISRU-Konzept zur Eroberung des Weltraums ("in-situ resource utilization" steht für den Gedanken des Sammelns von Ressourcen auf anderen Himmelskörpern zur Fertigung von Dingen, die sonst von der Erde mitgeführt werden müssten). Dazu kamen Ideen aus der Philosophie der Umweltbewegung der 1970er-Jahre. Der Name war für das Team aber bald viel mehr als nur ein Slogan. Der Flair der "unbekannten Weiten" wurde auch zur allgemeinen Lebensphilosophie.
"Fanny, ein Mitglied unseres Teams, meinte einmal: 'Krass, genau wie auf dem Mars'", erinnert sich Zormeir. "Wie in den Filmen: Du stehst auf dem Mars und hast nur noch eine Rolle Klebeband und ein paar Kunststoffteile …"
"Und da musst du dir einfach was einfallen lassen", fährt Toelle fort. "So hat das Ganze [gleich] viel mehr Spaß gemacht."
Ob es nun Klebezettel mit Smileys und "Bleibt geschmeidig"-Nachrichten waren, oder bestärkende Rufe quer durch die gesamte Werkhalle: Die Stimmung setzte sich im Team fest und trieb sie gemeinsam zu immer neuen Fortschritten an.
"Es fühlte sich an wie auf einer Raumstation, wo jeder einzelne Beitrag zählt", meint Toelle. "Als würden wir nicht lediglich an einem Design, sondern an einer überlebensnotwendigen Mission arbeiten."
Das alles lässt sich als "Optimismus der Dringlichkeit" zusammenfassen: dass man sich nicht von schlechten Nachrichten in Bezug auf die Umwelt einschüchtern lässt, sondern stattdessen fragt: Was können wir dagegen tun? "Wenn du nicht positiv in die Zukunft blickst", sagt Murphy-Reinhertz, "warum sollte dann irgendjemand mit dir in diese Zukunft gehen wollen?"
Lektion Nr. 5: Weitere Schritte machen
"Die eigentliche Magie, für die Entwicklung eines Schuhs verschiedene Wege [zu finden], liegt darin zu sehen, was sich dabei noch alles ergibt", sagt Murphy-Reinhertz. Beim Space Hippie bedeutete das eine neue Qualität im Austausch von Informationen und in der Zusammenarbeit.
"Diese Art von Projekten sollte nicht von Geheimnistuerei beherrscht werden", sagt Toelle. "Vielmehr sollten sie Menschen das Gefühl geben, selber die Kontrolle zu haben." Nike startete seinen Weg, gemeinsam zu mehr Nachhaltigkeit zu finden, mit einem Circular Design Guide. Er wurde 2019 veröffentlicht und sollte innovativen Köpfen in aller Welt helfen, geeignete Entscheidungen zu treffen. Dieser Geist des Teilens wächst überall heran – in der gesamten Branche und innerhalb unserer eigenen vier Wände.
"Wir bekamen immer mehr Rückhalt von Menschen im Unternehmen. Das Ganze wurde zu einer Art Graswurzelbewegung", sagt Toelle und erinnert sich an persönliche Gespräche vor Corona. "Wir haben diesen ungewöhnlichen Konferenzraum, der kaum größer als ein Wandschrank ist. Wir haben marokkanische Teppiche ausgelegt und bei den Besprechungen saßen alle auf dem Boden."
"Diese Art von Projekten sollte nicht von Geheimnistuerei beherrscht werden. Vielmehr sollten sie Menschen das Gefühl geben, selber die Kontrolle zu haben."
Haley Toelle
Space Hippie Designer
Zormeir ist der perfekte Meeting-Host. "[Es gab] spacige Musik im Hintergrund und alle setzten sich auf marokkanische Sitzkissen. Aus dem Luftbefeuchter strömte das Aroma von Strand und Meer. Und nachdem alle ein paar Gänge runtergeschaltet hatten, konnten wir endlich mal ein richtiges Gespräch führen."
Bei dieser Form der Zusammenarbeit fließt die Energie in beide Richtungen, umweltfreundliche Ideen greifen allmählich auch auf andere Teams über. Wir fangen bereits an, Klassiker von Nike wie den Air Force 1 mit Mittelsohlen aus Crater Foam auszustatten und wir haben einen Jordan 1 High, dessen Canvas-Obermaterial auf Space Waste-Technologie zurückgreift.
Dieser Effekt sollte sich aber auch über Nike hinweg ausbreiten. Zormeir sieht in den Produkten eine Chance, zum Umdenken anzuregen. "Aus der Frage 'Oh, was ist das denn?' könnte zum Beispiel ein Gespräch über Nachhaltigkeit entstehen, das sich sonst nicht ergeben hätte", sagt er.
Toelle stimmt zu: "In Sachen Innovation genügt es nicht, nur einen großartigen Schuh zu entwickeln. Vielmehr geht es darum, eine Geschichte zu erzählen, die Menschen zu inspirieren – und dieser Schuh ist ein Mittel, genau das zu tun."
Text: Emily Jensen und Seth Walker
Fotos: Holly Andres
Illustrationen: Brian Rea
Gemeldet: Oktober 2020