Eine Lauf-Story, die mit einem Seil beginnt
Athlet:innen*
Bei dieser Lauf-Story geht es mehr um Hände als um Füße. Sie dreht sich zwar um denselben Sport und dieselbe Leidenschaft, die Hauptrolle aber spielt ein Stück Seil, das von Händen festgehalten wird. Dieses Seil verbindet zwei Menschen durch Kameradschaft, Mut und Leidenschaft miteinander.
"Laufen hat mein Leben nicht nur physisch bereichert. Dieser Sport zwingt mich, rauszugehen, sodass ich nicht mehr ans Haus gefesselt bin", erklärt Youyou, ein sehbehinderter Läufer. Er ist Mitglied von Lan Jingling (Der Geist der blauen Augen), einer Wohltätigkeitsorganisation, die sich für Inklusion im Sport einsetzt. Lan Jingling wurde vor fünf Jahren von einer Gruppe von Guides für sehbehinderte Läufer:innen gegründet.
Hinweis: Sehbehinderte Läufer:innen brauchen mindestens einen Guide, der oder die sie beim Laufen begleitet. Wenn sich sehbehinderte Läufer:innen wie Youyou auf einen Marathon vorbereiten, brauchen sie mindestens drei solcher Partner:innen: eine(n) für das Tempo (Pacer), eine(n), der oder die vorläuft (Lead), und eine(n), der oder die hinten läuft (Rear). Mit einer klaren Aufgabenteilung und wortloser Kooperation ermöglichen solche Teams sehbehinderten Läufer:innen einen sicheren, stabilen Lauf.
Yachi ist schon seit vielen Jahren Youyous Pacer. Am Anfang stießen sie regelmäßig zusammen, wenn sie versuchten, mit dem 30 Zentimeter langen Seil zwischen sich zu laufen. Heute sind sie ein perfektes Tandem. Bei der Wettkampfvorbereitung kommen noch weitere Guides hinzu, um die passende Laufformation zu bilden. Keiner kann genau sagen, wie oft diese Formation morgens und abends, im eiskalten Winter und im glühend heißen Sommer miteinander trainiert hat. Abseits der Laufstrecke allerdings gibt es kein Seil zwischen ihnen, sondern ein unsichtbares Band der Freundschaft, das sie eng miteinander verbindet.
"Ich sehe sie."
Falls es mal kein Selfie gibt, kann das nur daran liegen, dass Youyous Frisur schlecht sitzt.
Das mag auf den ersten Blick überraschend klingen, aber Youyou selbst vermisst in seiner Welt nichts, auch nicht seine Sehfähigkeit. "Ich sehe einfach anders", erklärt er.
Er ist 21 und trainiert als Data Annotator KI-Systeme so, dass sie die menschlichen Anforderungen besser verstehen.
Aber er ist auch ein Student, der neugierig auf die Welt ist und einfach alles begreifen und ausprobieren möchte.
Er macht gerne Fotos von wichtigen Momenten in seinem Leben. Mit der Hilfe von Sprachunterstützung ist er inzwischen zu einem meisterhaften Fotografen geworden. Er macht Selfies mit Freund:innen, lustige Urlaubsbilder, Fotos von Läufen am frühen Morgen und von stürmischen Küstenlandschaften.
Youyou liebt die Gesellschaft und organisiert oft Lauf-Meetups. Obwohl er die Gesichter der anderen nicht sehen kann, erkennt er schon nach wenigen Worten Menschen, mit denen er Sprachnachrichten ausgetauscht hat, an ihren Stimmen. "Ich sehe sie", behauptet er.
Das Seil
Laufen ist für Youyou ein weiteres Fenster, durch das er die Welt "sieht".
Neben Yachi wird Youyou auch von Yao Ying und Xiao Yu'er eskortiert, die ebenfalls Mitglied von Lan Jingling sind. Sie begleiten ihn nicht nur regelmäßig zu Laufveranstaltungen, sondern auch beim Training. So kann sich Youyou Schritt für Schritt verbessern und seine persönlichen Ziele erreichen.
Beim Training läuft Yao Ying vorne, Yachi an seiner linken Seite und Xiao Yu'er hinten. Wenn man dieses Team beim Laufen beobachtet, scheint es eine unüberwindbare Festung um Youyou zu bilden. Und diese Festung wird von der Macht der Freundschaft zusammengehalten.
"Pacer müssen schneller laufen als die sehbehinderten Läufer:innen. Nur so können sie deren Sicherheit gewährleisten und zu ihrem Fortschritt beitragen", erklärt Yachi. Er ist derjenige, der am längsten mit Youyou läuft und der weiß, dass es nicht nur um das physische Training geht, sondern vor allem darum, eine innere "Verbindung" zueinander aufzubauen.
Beim Laufen ist ein 30 Zentimeter langes, blaues Seil an Youyous linkem und Yachis rechtem Handgelenk befestigt. Sie bewegen sich wie ein Spiegelbild im Einklang miteinander, wobei das Seil der Kommunikation dient.
Wenn Yachi und Youyou ihre Schritte und ihr Tempo aneinander angepasst haben, gibt es keine Spannung auf dem Seil. So wissen sie, dass sie ihren Rhythmus gefunden haben und absolut synchron laufen. "Wenn zwei Menschen beim Laufen den gleichen Rhythmus haben, müssen sie eigentlich nicht mehr viel darüber reden", so Yachi.
Das Seil wirkt dabei auf beide Läufer.
Yachi erklärt, dass das Laufen durch das Seil nicht mehr länger ein Einzelsport ist. Auch Yachi muss viel trainieren, damit das Seil in den unterschiedlichsten Situationen locker bleibt. "Ich tue das nicht aus Mitleid", betont er. "Es geht vielmehr um das Gefühl von Gemeinsamkeit und um die gemeinsamen Erfolge. Nicht nur ich helfe Youyou, sich zu verbessern, auch er zwingt mich, durchzuhalten und stärker zu werden."
Mehr als Läufer:innen
Youyou hat oft das Gefühl, dass die Menschen ihr Leben heutzutage quasi in ihren Smartphones führen. Aber seine Freund:innen sind real.
"Yachi, Tante Yao und Xiao Yu'er sind nicht nur beim Laufen meine Guides. Sie helfen mir, die Welt zu entdecken", erklärt er. Das Laufen ermöglicht es ihm nicht nur, das Haus zu verlassen, er hat dadurch auch mehr Motivation, sich auch zu anderen Gelegenheiten mit seinen Freund:innen zu treffen.
Sie gehen zusammen zum Karaoke, probieren neue Restaurants aus und fahren auch mal raus aus der Stadt, damit Youyou "auch die Geräusche außerhalb der City" erleben kann. "Nach so langer Zeit bin ich nicht nur Laufpartner, sondern eigentlich mehr ein Freund, fast schon ein Mitglied der Familie", so Youyou.
Beim Laufen geht es schon lange nicht mehr nur um das Training, sondern auch darum, mit seinen Freund:innen zusammen zu sein.
Wenn sie zusammen essen gehen, mag es Youyou nicht, wenn in den Restaurants aufgrund seiner Sehbehinderung viel Aufhebens um ihn gemacht wird. Diese Art der übertriebenen Fürsorge ist ihm unangenehm.
Yachi, Yao Ying und Xiao Yu'er wissen, wie wichtig Youyou neue Erfahrungen sind, und sie zerbrechen sich oft den Kopf darüber, wie sie ihn immer wieder mit anderen Dingen konfrontieren können.
Manchmal nehmen sie Youyou mit an die Küste, damit er den Wind spüren kann, der vom Meer kommt. Sie durchbrechen Sicherheitsabsperrungen, damit er das Adrenalin in seinen Adern fühlt. Und dann laufen sie einfach für eine Weile los.
Wenn in der Physik Schallwellen derselben Wellenlänge aufeinandertreffen, entsteht eine Resonanz, die die Schwingungen noch verstärkt. Auch bei Youyou, Yachi, Yao Ying und Xiao Yu'er gibt es eine solche Resonanz. Wenn sie weiterhin zusammen laufen, wer weiß, was sie noch erleben werden … Doch egal, welche Fortschritte sie noch machen werden und welche aufregenden Wettkämpfe noch auf sie warten: Durch das Laufen haben sie zueinandergefunden und entdecken zusammen unbekanntes Terrain. Allein das ist schon ein großer Erfolg.